Dem Krebs davonlaufen – Dr. Thomas Widmann im Interview

22. September 2017 | App, Medien & Presseberichte

Täglich sich zu bewegen hält fit, ist aber auch der beste Schutz vor Krebs. Ein Interview mit Privatdozent Dr. med. Thomas Widmann im PLUS Magazin, Ausgabe 08/17

Quelle: Artikel im PLUS Magazin 08/17

Text: Holger Schöttelndreier

Dass Sport Krebs vorbeugt, ist schon länger bekannt. Doch jetzt gehen Mediziner noch einen Schritt weiter. Neben OP und Chemotherapie verordnen sie akut an Krebs Erkrankten Bewegung, um die Tumorzellen endgültig zu besiegen. Ein neues, von Ärzten entwickeltes Punktesystem hilft dabei, sich genug zu bewegen und sich so auch mit der richtigen Dosis Sport wirksam vor Krebs zu schützen. Wie das funktioniert, erklärt der renommierte Onkologe Thomas Widmann.

Herr Dr. Widmann, früher beakam man von Ärzten nach einer Krebs-Diagnose den Rat, sich zu schonen. Heute empfehlen Sie, sich beim Sport zu verausgaben. Woher kommt der Sinneswandel?

WIDMANN: Durch zahlreiche Studien wissen wir, dass Menschen mit Krebs eine viel größere Chance haben, zu überleben, wenn sie sich regelmäßig körperlich anstrengen.

Was heißt das konkret? Um wie viel besser sind die Chancen?

WIDMANN: Bei Brustkrebs etwa sinkt das Risiko, einen Rückfall zu bekommen, um bis zu 67–%. Bei den anderen beiden sehr häufig vorkommenden Karzinomen – Prostata- und Darmkrebs – sind es 61 und 53–%. Diese Zahlen sind das Ergebnis von mehr als 70 internationalen Studien mit knapp vier Millionen Menschen aus den letzten zehn Jahren.

Warum ist Bewegen so viel besser als Schonen?

WIDMANN: Wenn Sie sich viel auf die Couch setzen, bauen Sie zum Beispiel Muskeln ab und Ihr Herz-Kreislauf-System wird schwächer. Das führt unter anderem dazu, dass Sie eine Chemotherapie schlechter vertragen und häufi ger Nebenwirkungen wie eine Lungenentzündung auftreten. Dann muss diese Therapie möglicherweise unterbrochen werden und sie würde dadurch natürlich schlechter wirken. Sind Sie hingegen sportlich aktiv, hat das mehrere Vorteile:  Der Körper bildet Reserven, um die Therapien gegen den Krebs besser zu verkraften. Studien  zeigen, dass schwerwiegende Komplikationen einer Chemotherapie, etwa eine Lungenentzündung, bei aktiven Menschen mit Krebs deutlich seltener sind. Wer Sport treibt, ist nach den Therapien wie OP, Chemo und Bestrahlung schneller wieder fit. Langfristig steigt die Chance, den Krebs durch Sport zu überleben, sogar um über 50–%.  Keine andere Therapie hat diesen enormen Erfolg.

Heißt das, Sport kann andere Krebs-Therapien wie Chemo und Bestrahlung ersetzen?

WIDMANN: Nein, denn Laufen & Co zerstören, anders als eine OP, Chemo- und Strahlentherapie, keine Krebszellen. Aber es ist die perfekte Ergänzung, weil keine andere Therapie das Risiko eines Rückfalls nach einer Krebserkrankung so stark senkt wie Bewegen.

Was genau bewirkt Sport im Körper, dass er das Rückfall-Risiko so gut senkt?

WIDMANN: Laufen, Schwimmen, Krafttraining – all diese Sportarten setzen Prozesse in Gang, die die Wahrscheinlichkeit verringern, dass sich Körperzellen krankhaft teilen und so Krebszellen entstehen.

Wie erklären Sie sich das?

WIDMANN: Um das zu verdeutlichen, muss ich ein wenig ausholen (siehe auch Illustration unten). Also: Jede Körperzelle enthält 46 Chromosomen, auf denen unsere Erbinformationen  gespeichert sind. Bildlich können Sie  sich diese Chromosomen wie Schuhbänder vorstellen. An deren Enden befinden sich Verstärkungen, die ein Ausfransen verhindern. In der Medizin nennen wir sie Telomere. Je älter wir werden, desto kürzer werden die Telomere. Kurze Endstücke aber können die Chromosomen und die darin gespeicherten Erb-Informationen schlechter schützen, deswegen können bei der Zellteilung Fehler passieren und Tumorzellen entstehen. In unseren Zellen gibt es aber ein Enzym, die sogenannte Telomerase. Sie schützt die Telomere vor dem Ausfransen und Verkürzen. Damit die Telomerase aktiv wird, braucht sie einen Impuls – und das ist Bewegung.

Wie haben Sie das entdeckt?

WIDMANN: Eine Studie von mir und weiteren Wissenschaftlern an der Uniklinik Homburg/ Saar gab den entscheidenden Hinweis. Dabei untersuchten wir zwei Gruppen von 50- bis 60-jährigen Menschen. Die eine Gruppe bestand aus ehemaligen Olympia-Teilnehmern, die auch nach ihrer aktiven Karriere viel Sport machten. Für die Vergleichsgruppe wählten wir Menschen, die nicht so  viel Zeit für Sport hatten. Das Ergebnis ist beeindruckend: Die Telomere, also die Schutzhüllen, sind bei den Olympioniken viel länger und damit besser vor krankhafter Teilung geschützt. Biologisch betrachtet ist ihr Körper dadurch etwa 30 Jahre jünger als bei der Vergleichsgruppe.

Es kann aber ja nicht jeder so viel trainieren wie ein Hochleistungssportler.

WIDMANN: Das müssen Sie auch nicht. Um ein besseres Gefühl dafür zu bekommen, wie viel Bewegung für den schützenden Ežffekt nötig ist, hilft ein wissenschaftlichesPunktesystem.
Pro Stunde bringt Radfahren z.–B. 4 Punkte, Schwimmen 5,3 oder Yoga 2,5 Punkte. Sofern es der Gesundheitszustand zulässt, empfehle ich jedem Menschen mit Krebs, pro Woche idealerweise auf  5 Punkte zu kommen, um das Rückfallrisiko so stark wie möglich zu senken.

Weniger Punkte bringen nichts?

WIDMANN: Doch, aber 10 Punkte sollten es mindestens sein. Ab diesem Wert sind schon deutliche Erfolge messbar. Für einen Spaziergang von nur 30 Minuten bekommen Sie 1,5 Punkte. Wer  das täglich macht, knackt damit schon die wichtige Zehn-Punkte-Grenze. Wichtig: Bewegen Sie sich lieber mehrmals täglich eher kurz als zwei Mal pro Woche richtig lange.

Warum ist das  wichtig?

WIDMANN: Weil jede Einheit nur einen Tag lang das Enzym Telomerase stimuliert. Das bedeutet also, dass man täglich Sport treiben muss.

Ist das denn für alle krebskranken Menschen zu  schaffen?

WIDMANN: Sofern sie kein Fieber, keine Infektion oder blutende Wunde haben – ja! Das erlebe ich täglich in unserer Klinik. Hier arbeiten wir auch mit Menschen, die nur noch mit Gehhilfe, also  Stock oder Rollator, laufen können. Trotzdem schaffen auch sie 18 Punkte in der Woche. Im Durchschnitt erreichen die Menschen in unserer onkologischen Rehabilitation sogar stolze 38  Punkte.

Führen die Patienten Tagebuch über ihren Sport?

WIDMANN: Das wäre eine gute Möglichkeit. Noch einfacher und übersichtlicher errechnet man sich die Punkte mit unserer App „movival“. Das kleine Programm fürs Smartphone bzw. Tablet  gibt es für Apple- und Android-Geräte. Die App vergibt auch für eine Stunde Bügeln 1,8 Punkte.

Ist es für die Wirkung gegen den Krebs völlig egal, für welche Sportart man sich entscheidet?

WIDMANN: Im Prinzip ja. Hauptsache, Sie kommen etwas ins Schwitzen und ein erhöhter Puls zeigt an, dass Ihr Herz-Kreislauf-System spürbar aktiviert ist. Je intensiver dieser Effekt ist, desto größer ist der schützende Mechanismus der Telomerase. Für leichte Tätigkeiten wie Bügeln gibt es deshalb nur 1,8 Punkte, für eine Stunde auf dem Crosstrainer sind es dagegen 9 Punkte.

Sprechen alle Krebsarten auf Bewegung an?

WIDMANN‰Š‹ŒŽ‘‘: Das scheint fast sicher. Bei den häufigsten Krebsarten wurde der Effekt bereits nachgewiesen. Sehr positiv wirkt sich Sport übrigens auch auf die Psyche der kranken Menschen aus.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

‰Š‹ŒŽ‘‘WIDMANN: Früher kamen die Menschen zu mir und fragten, was  sie tun können, damit der Krebs nicht zurückkommt. Ich konnte nur raten, zur Nachsorge zu gehen. Doch die konnte ja nicht  verhindern, dass sich neue Tumore bilden, sondern diese lediglich früher erkennen. Deshalb fühlten sich die Menschen oft hilflos der Krankheit ausgeliefert. Heute kann ich den Menschen ein  konkretes und nachweislich hochwirksames Mittel nennen, mit dem sie selbst etwas dafür tun können, dass der Krebs nicht zurückkommt. Dieses Gefühl, das Schicksal selbst in der Hand zu  haben, schenkt enorm viel Lebensmut.

Und was ist, wenn man schon ewig keinen Sport mehr gemacht hat? Wie findet man dann wieder den gesunden Einstieg?

WIDMANN: In der Reha spornen wir die Menschen an, viele verschiedene Dinge auszuprobieren, etwa Yoga, Nordic Walking, Schwimmen, Hanteln, Rudern usw. Bei den meisten macht es irgendwann klick und sie haben ihren Sport-Mix gefunden.

Und danach? Gibt es spezielle Krebs-Sportgruppen?

WIDMANN: Ja, vergleichbar  denen der Herzsportgruppen. Allerdings ist das Angebot an Krebs-Sportgruppen noch nicht flächendeckend in Deutschland. Aber Hausarzt bzw. Onkologen kennen  bestimmt Gruppen in der Nähe.

Hat Sport auch eine vorbeugende Wirkung gegen Krebs? Sinkt also das Risiko, dass ich überhaupt an Krebs erkranke, wenn ich mich regelmäßig bewege und Punkte sammle?

WIDMANN: Klares Ja. Man kann eindeutig sagen, dass Sportler seltener an Krebs erkranken. Statistisch betrachtet senken wir unser Krebs-Risiko durch regelmäßige Bewegung um etwa 30‚%. Deshalb mein Rat an alle: runter von der Couch, Sportschuhe schnüren und loslegen.

Unsere Partner

Validierte Anwendung für