Interview mit Priv.-Doz. Dr. Freerk T. Baumann

2. August 2017 | App, Was sagen Medizinexperten?

Experten zum Thema „Bewegung nach Krebs“ und „Krebsbehandlung“: Ein Interview mit dem Sportwissenschaftler und Leiter der Arbeitsgruppe ‚Bewegung, Sport und Krebs‘ am Centrum für Integrierte Onkologie (CIO Köln Bonn) der Universitätsklinikum Köln, Priv.-Doz. Dr. Freerk T. Baumann.

„In Bezug auf die Motivation empfehlen wir unseren Patienten weiterhin in Bewegung zu bleiben.
Es gibt nichts Risikoreicheres als körperliche Inaktivität und Schonung. “

Priv.-Doz. Dr. Freerk T. Baumann

Sportwissenschaftler, Centrum für Integrierte Onkologie (CIO Köln Bonn) der Universitätsklinikum Köln

1. Herr Dr. Baumann, wie sind Sie als Sportwissenschaftler auf das Thema „Bewegung und Krebs“ aufmerksam geworden – was ist Ihr Antrieb, das Thema zu fokussieren und voranzutreiben?

Ich persönlich bin darauf aufmerksam geworden, da ich im Studium bereits Berührungspunkte hatte. Mich hat Sport schon immer interessiert, ich betätige mich selbst auch sportlich und bin davon überzeugt, dass durch Sport auch medizinisch-therapeutische Effekte generiert werden können.

 

2. Eine Krebstherapie kostet Kraft, körperlich wie auch mental. Viele Patienten verfallen oft in Passivität. Wie lassen sich Patienten motivieren, durch Bewegung selbst etwas zu tun und aktiv zu werden?

Patienten lassen sich vor allem durch zweierlei Aspekte motivieren:

Erstes Thema ist immer Aufklärung. Das bedeutet, Patienten müssen unmittelbar nach der Diagnosestellung aufgeklärt werden, idealerweise vom Arzt. Das sehen wir in unseren Daten. Der Arzt sollte die Patienten informieren, motivieren und ihnen vor allem Sicherheit schenken. Das alles hängt eng miteinander zusammen und ist eine sehr wichtige Komponente. Der Arzt muss Sicherheit vermitteln, weil onkologische Patienten erfahrungsgemäß verunsichert sind und hohe Angstsymptome zeigen. Und wenn dann der Arzt formuliert, dass sie sich bewegen dürfen und es sicher ist, dann hat man schon ein hohes Motivationspotenzial erreicht.

Wenn Patienten auch noch idealerweise – und das ist der zweite Aspekt – in bewegungstherapeutische Programme eingebunden werden, d. h. professionelle therapeutische Begleitung erhalten, dann bekommen wir ebenfalls entsprechend mehr Patienten motiviert. Optimalerweise immer dann, wenn Patienten noch in den Kliniken oder ambulant behandelt werden und vor Ort nach entsprechenden Physio- oder Sporttherapien fragen, an denen sie teilnehmen können. Das ermöglicht es, Bewegungstherapie zu erlernen – man erlangt auch Sicherheit und Selbstvertrauen für sich und seinen eigenen Körper und ist letztlich befähigt, Bewegungsintervention dann auch selbstständig zuhause durchzuführen.

 

3. Können Sie uns als Experte sagen, ab wann Bewegung nachweislich einen positiven Effekt beim Patienten bewirkt? Wie oder woran lässt sich das messen?

Wir sehen, dass Bewegungsintervention schon ab einer einzelnen Einheit einen Effekt hat. Da lohnt sich jeder Schritt. Unser Körper merkt sich jede Bewegung. Ob es jede Stufe ist, jeder Meter, den wir gehen und damit eine Art Sammelsurium an Bewegungsinterventionen, die wir über den ganzen Tag verteilt durchführen.

Da sehen wir Effekte genereller Art auf der einen Seite, beispielsweise die Erhöhung der Ausdauerleistungsfähigkeit, die verbesserte Bewegungskoordina-tion oder auch die Steigerung der Kraft.

Auf der anderen Seite, wenn wir zum Beispiel eine einmalige Bewegungseinheit durchführen, lassen sich Effekte in Richtung der Bewegungsgewöhnung erkennen. Das ist eine ganz wichtige Sache, um Patienten schnellstmöglich zur Nutzung von Bewegungsprogrammen zu motivieren. Zu bemerken ist u. a. die psychische Ausgeglichenheit, die sich dadurch einstellt. Bei dem Fatigue-Syndrom als Beispiel, also dem Erschöpfungszustand bzw. die Ermüdung, die onkologische Patienten nicht selten haben, sehen wir bereits bei einer einzelnen Bewegungseinheit vor- und nachher deutliche Unterschiede.

Wir messen Bewegung in der Wirkung ganzheitlich, d. h. auf körperlicher, mentaler wie auch psycho-sozialer Ebene.

 

4. Stichwort Metabolische Einheit – welche Rolle spielt die Regelmäßigkeit von Bewegung?

REGELMÄSSIGE Bewegung spielt eine sehr große Rolle. Wenn wir mit der metabolischen Äquivalenten rechnen, dann messen wir diese Einheiten pro Woche. Man darf auch eine Woche Pause machen, das ist keine Frage. Aber man sollte wöchentlich aktiv sein. Bei der Frage, wie oft ein Patient sich bewegt, kommt es auch auf die Intensität an. Wenn man anstrengende Bewegungen durchführt, dann mindestens zwei Mal pro Woche, um langfristige Effekte zu erzielen. Bei Brustkrebspatienten geben wir die Empfehlung von 75 Minuten anstrengender Bewegung oder 150 Minuten moderate Bewegung pro Woche. Die Zeit kann auf mindestens zwei Tage pro Woche, idealerweise auf drei oder vier Tage aufgeteilt werden.

 

5. Gibt es einen Unterschied zwischen der subjektiven Wahrnehmung der Patienten und deren tatsächlich erfolgten Bewegungsvolumen?

Der Unterschied ist wirklich sehr groß. Der kann nach unten oder nach oben hin variieren. Das ist im Übrigen sehr interessant. Meistens überschätzen sich Patienten. Sie glauben oft, dass sie zu viel gemacht haben – also mehr als sie tatsächlich gemessen haben. Die subjektiv empfundenen Bewegungsumfänge können von den tatsächlich durchgeführten bis zu 30% nach oben hin abweichen.

Aber wir haben auch einige onkologische Patienten, vor allem interessanterweise Kinder und Jugendliche, bei denen wir oft eine Unterschätzung beobachten. Warum das so ist, können wir momentan noch nicht genau sagen. Aber dass sich die rein subjektive Wahrnehmung mit der objektiven deckt, sehen wir nur bei wirklich erfahrenen Sportlern, die schon immer Bewegung gemacht haben und denen es leicht fällt diese einzuschätzen. Das ist aber nur eine kleine Gruppe, die Mehrheit überschätzt sich.

 

6. Wie hilfreich kann eine Visualisierung, d. h. eine systematische Erfassung von Bewegungseinheiten dabei sein?

Die Visualisierung und systematische Erfassung kann motivieren. Wir haben einige Patienten, die bereits eine Art Bewegungstagebuch oder Tabellen führen oder andere Messmethoden nutzen, um Bewegungsintervention zu dokumentieren. Die Motivation wird dann nochmal erhöht, wenn die Patienten die Möglichkeit haben, sich mit anderen Patienten zu vernetzen.

Sich also gegenseitig – und da will ich bewusst nicht sagen zu kontrollieren – sondern sich gegenseitig zu erkennen und zu finden; einfach zu schauen, was der andere macht, wie er es macht und dahingehend eine Art Verantwortung für sich und die Gruppe zu entdecken. Die Motivation ergibt sich dabei einfach dadurch, indem man mit mehreren gleichzeitig Sport treibt und eine visuelle oder digitale Beobachtung erfolgt und damit auch eine gute Verbindung untereinander hat.

Da gibt es ja bereits einige Methoden, die man ganz allgemein nutzen kann.

Für onkologische Patienten im Speziellen spielen diese jedoch keine Rolle, da so etwas für eben die Bedürfnisse dieser Menschen bisher noch niemand umgesetzt hat.

 

7. Welcher Nutzen könnte aus Ihrer ärztlichen Sicht heraus aus einem solchen Bewegungs-Tracking für den Krebspatienten perspektivisch entstehen?

Wir sehen den Nutzen aus den Erfahrungen aus dem Breitensport schon als hoch an. Aber wir müssen hier unterscheiden: Wenn wir BewegungsTHERAPIE durchführen, dann ist der 1:1-Kontakt sehr wichtig, weil der Therapeut direkt die Bewegungsintervention anleiten muss. Er führt dann die Bewegungsintervention wirklich real durch – quasi in der Supervision. Wenn wir Patienten in der NACHSORGE haben, um sie in Bewegung zu halten, dann spielt so etwas wie Tracking eine große Rolle. Das sehe ich als sehr sinnvoll und übergeordnet an. Hier kann durch die digitale Vernetzung eine Art ‚digitale Gruppendynamik‘ entstehen, die aus sich selbst motiviert und anleitet.

 

8. Wenn Sie Patienten entlassen, was geben Sie denen für ihren Alltag mit auf den Weg?

Bisher gab es kaum oder gar keine digitalen Kontakt- und Vernetzungsmöglich-keiten für onkologische Patienten. Daher haben wir den Patienten entsprechende Informationsbroschüren mit auf den Weg gegeben, wenn sie aus der kontrollierten Bewegungstherapie entlassen werden, und die Teilnahme an lokalen Krebssportgruppen empfohlen, sofern es diese vor Ort gibt.

In Bezug auf die Motivation empfehlen wir unseren Patienten weiterhin in Bewegung zu bleiben. Es gibt nichts Risikoreicheres als körperliche Inaktivität und Schonung. Alltagsaktivitäten haben neben dem Sport ebenfalls einen großen Effekt auf die Gesunderhaltung und Fitness.

 

9. Nun haben wir über Bewegung während und nach einer Krebserkrankung gesprochen. Wünschenswert wäre es doch, wenn man gar nicht erst erkrankt. Wie schätzen Sie die Möglichkeit ein, durch systematische Bewegungseinheiten das Krebsrisiko zu reduzieren?

Dass Bewegungsintervention das Krebsrisiko reduziert, ist wissenschaftlich belegt für Brustkrebs, Dickdarmkrebs und Gebärmutterschleimhautkrebs. Diese Art der Risikoreduktion ist auch Teil des nationalen Krebsplans und der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO. Wenn wir es schaffen im Rahmen regelmäßiger körperlicher Aktivität bestimmte Krebserkrankungen in ihrem Auftreten weiter zu reduzieren, dann haben wir tatsächlich schon viel erreicht.

Der Lebensstil ist der Risikofaktor Nummer 1 in der Generierung einer Krebserkrankung, noch vor der genetischen Disposition. Da spielen Bewegungs-mangel, Ernährung, Alkohol, Rauchen etc. eine Rolle. Das hat man vor einigen Jahren noch deutlich unterschätzt, indem man dachte, der Lebensstil spielt nur eine untergeordnete Rolle. Durch eine entsprechend bewegungsreiche Lebensführung könnte man also eine ganze Reihe von onkologischen Erkrankungen reduzieren.

Man geht davon aus, dass sich bei Brustkrebs und Dickdarmkrebs durch regelmäßige Bewegung 10% dieser Erkrankungen reduzieren lassen. 10% müssten gar nicht erst diese Arten von Krebs bekommen, wenn sie sich regelmäßig bewegen würden. Das ist schon beachtenswert.

 

10. Wie beurteilen Sie das Potential medizinisch hochwertig gestalteter Apps, um Patienten zukünftig besser für das Thema Bewegung zu begeistern?

Faktisch gesehen ist das Potenzial gegenwärtig noch unklar und unerforscht. Auch wenn wir noch sehr wenig Erfahrung in diesem Bereich haben, glauben wir, dass das Potenzial sehr hoch sein kann. Für Patienten mit einer Krebserkrankung, eine ganze Reihe an jungen Menschen, viele auch im fortgeschrittenen Alter, die trotzdem internetaffin sind, Smartphones nutzen und sich entsprechend darüber informieren. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese Apps einen direkten und guten Einfluss auf das Bewegungsverhalten und damit verbunden auf die Lebensqualität der onkologischen Patienten haben.

 

Herr Dr.  Baumann, vielen Dank für das Gespräch!

Interview:

Das Interview wurde telefonisch geführt am 23.11.2016 von Marcus Licher, RITTWEGER und TEAM Werbeagentur GmbH

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